Der Selbstmord des Einzelhandels

Was ich immer wieder in den Medien lese und höre ist, dass der Einzelhandel vor Ort stirbt. Sicherlich bezieht sich das nicht auf die Lebensmitteleinzelhändler im großen Stil, jedoch auch dort auf die kleineren Märkte und Geschäfte. Darüber gab es heute eine kurze Diskussion mit einem Kollegen.

Post zur Situation in Lengerich vom @DerLengericher

In jeder kleineren Stadt im Besonderen, in einer mittelgroßen Städten aber ebenfalls, stehen immer mehr Ladenlokale leer oder es siedeln sich Drogerien und Handy-Läden in Rudeln dort an.

Der Vorwurf, den die Einzelhändler immer wieder hervorheben, ist, dass der Onlinehandel sie ruinieren würde und der Einzelhandel keine Chancen hat. Der Einzelhandel muss natürlich teure Mieten bezahlen, sein Personal und das alles in einer 1-A Lage in der Innenstadt.

Meine Meinung dazu ist recht differenziert. So ganz kann ich der Argumentation nicht folgen und so ganz will ich es auch nicht abstreiten.

Der Onlinehandel ist ja nicht plötzlich gekommen und hat alle überrumpelt. Es gibt ihn schon seit Ende der 1980er / Beginn der 1990ern als es mit BTX begann und danach mit Datex-J weiterging. Dort hatten schon u. a. Neckermann und Quelle die Möglichkeit geboten „online“ zu bestellen.

Dann kam das Internet, zuerst von einigen als sinnlose Zeitverschwendung und das Überflüssigste überhaupt abgetan.

«Ich sage voraus, dass sich das Internet bald zu einer Supernova aufbläht und 1996 katastrophal kollabieren wird.»
Robert Metcalfe, Elektrotechniker, 1995

“Das Internet ist eine Spielerei für Computerfreaks, wir sehen darin keine Zukunft.”
Ron Sommer, ehemaliger Telekom-Chef (sic!), 1990

„Das Internet ist als Vertriebs- und Werbemedium für Streichfette und Katzenstreu total ungeeignet.“
Thomas Koch, Mediaplaner, 1997

Einige haben daran geglaubt und dann das Internet massentauglich gemacht. Bis heute sind mehr als 20 Jahre vergangen. Es wäre Zeit genug gewesen, sich andere Einzelhandelskonzepte einfallen zu lassen. Es wäre Zeit genug gewesen, die eigenen Unternehmen auf diese Richtung einzustellen und seine ureigenen Vorteile (Kundengebundenheit, persönlicher Kontakt, starker Vor-Ort-Service) zu nutzen.

Beinahe alle Menschen, mit denen ich spreche, würden im Einzelhandel vor Ort weiterhin unter gewissen Bedingungen einkaufen. Die Gründe sind unterschiedlich, aber es gibt den Markt noch. Der Eine der gerne den Service vor Ort nutzen möchte, der Andere, der eine persönliche Beratung wünscht und wieder Andere die vielleicht kaum bis keine Möglichkeit haben, online zu vergleichen. Dafür nehmen sie gerne einen höheren Preis in Kauf.

  1. Ich kann die Ware sofort mitnehmen, keine Lieferzeiten.
  2. In der Regel muss ich mich um Rechnungen nicht kümmern, denn die speichert der Einzelhandel vor Ort als Service oft ab, bzw. bietet mir das an (Euronics hier zumindest).
  3. Im „Laden um die Ecke“ bekomme ich eine Beratung zum Gerät und kann bei einer falschen oder schlechten Beratung den Mitarbeiter auch gleich konfrontieren. Allerdings setzt das eine Schulung der Mitarbeiter voraus, damit sie sich mit den Produkt Vor- und Nachteilen auskennen.
  4. Bei Umtausch und Reklamation gebe ich das Gerät ab, und das Geschäft kümmert sich.
  5. Ich zahle keine Versandkosten (sei es aus öknomischer Sicht oder aus Umweltschutzgründen).
  6. Im Einzelhandel wird vieles auf Kulanz geregelt.

Alles soweit richtig und gut. Das ist in vielen Einzelhandelsgeschäften auch so und ich finde diesen Service ebenfalls gut und wichtig. Allerdings sind fast all diese Punkte genau das was der
Onlinehandel ebenfalls bietet und darüber hinaus hat dieser diverse Vorteile oder bietet gleiches:

Tony Hegewald  / pixelio.de
  1. Die Ware kommt oftmals am nächsten Tag, was mehr als ausreichend ist, wenn es nicht um eine Kaffeemaschine geht 🙂
  2. Um Rechnungen muss man sich noch kümmern, es sei denn man nutzt große Versandhäuser, wo die Rechnungen hinterlegt sind. (Ich scanne jede Rechnung eh ein oder lade sie runter und sichere sie selbst digital; Stichwort Augenscheinsbeweis – rechtlich sicher (selbst in Gerichtsprozessen gelten digitale Kopien von Dokumenten als gültiger Augenscheinbeweis (nach § 371 Abs 1 ZPO))
  3. Beratung vor Ort, da kann der Einzelhandel toppen, allerdings gibt auch oft Geschäfte in denen der Verkäufer nach seiner Provision oder den Vorgaben des Chefs berät und nicht so sehr den Kunden. Im Onlineverkauf habe ich neben den Produktdaten auch Rezessionen der Kunden (die nicht immer korrekt sind, was ich im IRL aber auch habe). Ich habe die Möglichkeit mit anderen Händlern zu vergleichen. In einem kleinen Ort fehlt diese Möglichkeit meist gänzlich.
  4. Umtausch oder Reklamation. Ja kritisches Thema, denn vor Ort bringe ich das Gerät ins Geschäft zurück und dort sagt man mir, in 1-2 Wochen ist das Gerät wieder da. Dann schicken sie es ein (am nächsten Werktag meistens). Beim Onlinehandel sende ich es direkt an den Händler, Hersteller… Also einen wirklich Vorteil habe ich da nicht. Fahrtkosten habe ich so oder so, streng genommen sogar weniger, weil die Post die Waren zurückbringt, ich sie aus dem Einzelhandel in der Regel abholen muss). 
  5. Dazu kommt dann noch, dass ich in Städten meist – unverschämte – Parkgebühren bezahlen muss. Im Umtausch-Fall auch zweimal.
  6. Versandkostenfreie Lieferung gibt es bei vielen Versandhändlern heute, auch schon bei Beträgen um 20 €. 
  7. Auf Grund der Transparenz, der die Onlinehändler ausgesetzt sind, der öffentlichen Rezessionen zum Händler oder zum Produkt, sind die Händler im Internet darauf angewiesen einen entsprechenden Service und Kulanz zu bieten, denn sonst gibt es auch schnell einen „Shit-Storm„. Dies musste Dell 2005 erfahren, als sie einen Blogger nicht ernst genommen haben. Dieser Shit-Storm ist unter dem Namen „Dell Hell“ bekannt geworden. 2011 erwischte es O2 mit Netzwerkprobleme, woraus eine Website entstanden ist (www.wir-sind-einzelfall.de). Weitere Infos hier: Die ZEIT
  8. Die Verfügbarkeit der Ware. Oftmals erlebe ich im Einzelhandel, dass ich ein (doch gängiges) Produkt suche und mit gesagt wird: „Wir können es für Sie gerne bestellen!“. Gut… ja, aber das kann ich auch selbst. Natürlich kann ein kleines Geschäft nicht alles vorrätig haben. Natürlich müssen sie bestellen und damit kann ich leben, wenn mir nicht gleich gesagt wird, dass die Ware in 2 Wochen eintreffen wird und i. d. R. mehr kostet.
  9. Ich kann Preise von verschiedenen Händler ohne weiteres Vergleichen, wobei ich sonst in ländlichen Gebieten viele Kilometer und viel Zeit benötige. Webseiten wie www.guenstiger.de oder www.idealo.de machen es den Kunden leicht.

Was aber ebenfalls ein ganz wichtiger Punkt ist… der Preis. Und zwar nicht der nüchterne Preis für ein Produkt oder eine Dienstleistung, sondern das Preis-/Leistungsverhältnis. Fast alle „normalen“ Kunden, sind mehr oder weniger preissensibel. In den Sphären in denen man über ein mit Diamanten besetztes Smartphone nachdenkt, spielt sowas natürlich keine Rolle. Aber für den Otto-Normal-Endverbraucher sehr wohl.

2013 brauchte ich neue Kaffeemaschine (Pads). Da ich mich im Umzug befand, entschied ich mich, eine vor Ort zu kaufen. Ich wollte während des Umzugs in der neuen Wohnung beim Einrichten schon gerne einen Kaffee trinken, obschon ich noch in der alten geschlafen habe und die Maschine allerdings definitiv „auf“ war. Im Geschäft vor Ort geschaut: Senseo, das einfache Modell. Kein Alternativmodell in günstiger Preisklasse. Preis: 89,99 € / -5,00 € weil es ein Ausstellungsstück war. Also 85 €… Standart-Preis bei Amazon: 59,90 €.
Preisersparnis für einen Tag warten: 25 € – entspricht ca. 30%.

2015 Logitech SPEAKER SYSTEM Z323: 36,98 € incl. Versand (ebay-Händler).
Preis vor Ort 64,90 €. Das ist ca.  44 % günstiger.

Ein Monitor, 24“, Benq war 2014 im Wochen-Angebot vor Ort für 159 € – online zu der Zeit für 149 €. Hier hätte ich den vor-Ort gekauft, wenn ich ihn hätte haben wollen.
Regulärer Preis damals im Einzelhandel vor Ort 189,90 €.

Waschmaschine, 2015, bei einem Händler in der Stadt. Günstigtes Modell (no-Name, als Single reicht das allemal) 399 €. Abholpreis. Online ein vergleichbares Modell mit wesentlich mehr Waschprogrammen: 249 € incl. Lieferung, Aufbau, Anschluss und Müllentsorgung (ggf. noch +10 € für Mitnahme des Altgerätes).
Reine Preisersparnis: 38 %. Der Einzelhändler vor Ort hätte nochmals 25 € für Anfahrt genommen, ohne die Maschine anzuschließen.
Anmerkung: Ich habe bei der Suche nach Waschmaschinen gelernt, dass eine Trommel-innen-beleuchtung durchaus wohl ein wichtiges Merkmal sein kann.

Für einige der Produkte heißt es doch bei vielen Menschen: Dafür muss gespart werden oder es ist unumgänglich, wir müssen das von den Rücklagen bezahlen.

Aber wenn man sich die (sicherlich auch zum Teil gerechtfertigten) Preisvorstellungen des Einzelhandels ansieht, dann wundert es nicht, dass immer mehr Kunden online einkaufen. Es sind ja nicht alle Kunden mit ausreichend Geld jeden Monat ausgestattet, so dass es „auf die 10-50 % Ersparnis“ nicht ankommt.  Ich für meinen Teil, werde weiterhin online einkaufen, wenn der Preis vor Ort zu weit abweicht. Nachteile habe ich keine davon, aber ich kann dort gute Produkte günstig kaufen, wohingegen ich im Einzelhandel unter Umständen das Alternativprodukt nehme muss, was das (mindestens) gleiche kostet, aber halt ein einziges Vorrätig ist.

Es ist schade, dass die Orte mit kleinen Innenstädte aussterben, immer weniger Menschen dort in der Stadt sind, das ist richtig. Aber auch hier müssen andere Modelle her, andere Geschäftsfelder, um das Überleben zu sichern. Auch sind die Pacht- / Mietpreisvorstellungen einiger Besitzer unterirdisch in der heutigen Zeit. Problematisch wird es für ältere Menschen, die darauf angewiesen sind. Das ist mir völlig klar. Früher kam der kleine Einzelhändler mit Lebensmitteln nach Hause, wenn jemand nicht in der Lage war zu kommen. Ein Service den ich noch aus Kindertagen bei meiner Oma kenne.

Thorben Wengert  / pixelio.de

Heute im ländlichen Gebiet sind ältere Menschen oftmals auf Familie, Freunde, Nachbarn angewiesen um Lebensmittel zu kaufen. Jeder hilft gerne, aber ob die Person das immer möchte ist die Frage, denn damit geht ein großes Stück unabhängigkeit verloren und zeitgleich kommt eine große Abhängigkeit. Hier hat sogar der Lebensmitteleinzelhandel (u. a. REWE) reagiert, nach vielen, vielen Jahren und bietet an, den Einkauf gegen ein geringes Entgeld zu bringen. Das wiederum ist ein Service mehr, der auf dem Land eine wichtige Ergänzung darstellt.

Jeder für sich selbst muss entscheiden, was er möchte und in wie weit es jedem finanziell möglich ist, den Einzelhandel vor Ort zu unterstützen.

Die „Ünterstützt den Einzelhandel vor Ort“ – Initiativen sind wichtig, sprechen aber nicht alle Kunden an, wenn das Geld knapp ist. Leider sind auch immer mehr Menschen darauf angewiesen, ihr Geld ganz extrem zusammenzuhalten, bzw. für das maximale Budget das beste Produkt für den günstigsten Preis zu erhalten, und so vielleicht noch ein paar Euro übrig zu behalten (leider reden wir hier nicht nur von Hertz IV oder ALG-II Empfängern. Auch viele Menschen mit mit vollem Einkommen müssen immer mehr auf ihr Geld achten. Das ist die Realität. Zumindest die Meine in einer kleinen Stadt.

geschrieben in einer Stadt mit 22,500 Einwohnern